Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das Virus hält die Welt in Atem und aktuell sind unserem gesellschaftlichen Leben notgedrungen Grenzen gesetzt. Immer noch scheinen wir besser dran zu sein, als andere europäische Länder. Die Anzahl der infizierten Menschen ist jedoch auch bei uns enorm gestiegen und es wurden erneut Einschränkungen des öffentlichen Lebens verordnet. Dies ist für mich Anlass, einige Überlegungen anzustellen.
Wir brauchen eine breit gefächerte Diskussion, wie wir mit Corona und den mit großer Wahrscheinlichkeit folgenden globalen Wechselfällen der Zivilisation umgehen wollen. Eine ernsthafte Diskussion, fernab vom Leugnen, esoterischen Zwischenrufen und Verschwörungserzählungen. Krisen, wie auch die bestehende, treffen behinderte Menschen oft in besonderer Weise. Wer auch weiterhin auf Inklusion setzt, muss sich mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen unserer Gesellschaft auseinandersetzen! Dies möchte ich im Folgenden versuchen.
Ich nutze die Gelegenheit, einen Fehler in der Novemberausgabe zu korrigieren! Vielen Dank den aufmerksamen Leser*innen!!!
Korrigierter Terminhinweis:
10. Fachtagung SBV für die Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten i.S.d. SGB IX sowie für Betriebsräte, Personalräte und Mitarbeitervertretungen
23.03. bis 25.03.2021 in Magdeburg
(ver.di-Forum Nord in Kooperation mit dem Bildungswerk ver.di in Niedersachsen e.V. und ver.di b+b)
Herzlichen Gruß!
Jürgen Bauch
Corona – und wie geht’s weiter?
Eine Betrachtung
(jb) Ein Virus sieht man nicht, es sein denn, ein Elektronenmikroskop steht zur Verfügung. Es riecht nicht, es ist haptisch nicht erfassbar und es kann sehr gefährlich sein. Es kann sich vermehren, verändern und ausbreiten. Vielen anderen Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, können wir durch Erfahrungshandeln, einfachen Vorsorge- oder Schutzmaßnahmen begegnen. Mit so einem hässlichen Virus ist das nicht so einfach! Viren gab es und wird es wohl auch nach uns Menschen geben. Sie waren und sind Teil des Lebens auf dieser Erde, wohl solange es geeignete Wirtskörper geben wird.
Augenscheinlich wurde das Corona-Virus von Tieren auf Menschen übertragen, weil der Mensch den Tieren ihren Rückzugsraum, die Natur, nimmt und sich dadurch beide Spezies zu nahe kommen. Das sollte uns nachdenken lassen, über unseren Verbrauch an Kreatur, Natur, Landschaft und Ressourcen! Und das Virus breitete schnell sich aus, traf zuerst die global gut vernetzten, reisefreudigen, wohlhabenden Gesellschaften und wurde dann auf die Menschengruppen übertragen, die wenig oder nur begrenzt reisen können. Diese aber verbringen ihr Leben oft auf engem Raum und unter schlechten hygienischen und medizinischen Bedingungen und das vielfach ohne jegliche Chance, Mindestabstände einzuhalten.
10 Monate leben wir in Deutschland schon mit dem Virus, nachdem im Januar der erste Fall in Bayern bekannt wurde. Wir erlebten Grenzschließungen, Homeoffice und Lockdown, Corona-Tönnies-Skandal, sogenannte Hygienedemos und Maskenpflicht, fast täglich getestete Fußballprofis und Schweinestau vor den Schlachthöfen und nun wieder einem „Lockdown light“. Trotz all der Erfahrungen dachten viele Menschen in unserem Land wahrscheinlich, wir hätten das Schlimmste überstanden, es war ja auch schon so viel geschafft! Wir konnten schon wieder vermehrt Familie und Freunde treffen, Konzerte und Ausstellungen aufsuchen, Restaurants und Biergärten genießen. Jetzt kommt der kühle Herbst, der Winter naht, wir verbringen wieder mehr Zeit in Räumlichkeiten und die Infektionszahlen steigen. Das wurde uns vorhergesagt. Die jetzt, im November getroffenen Maßnahmen sollen dazu dienen, unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Und nun schwanken nicht wenige zwischen Solidarität und autoritärem Denken. Maske tragen, Abstand wahren, ja – das tut nicht weh. Nachbarn wegen vermeintlicher Verstöße anzeigen, mit dem Finger auf Großfamilien deuten und feiernde Jugendliche beschimpfen? Da braucht es doch mehr inhaltliche Differenzierung, um nicht in ein Denken zu verfallen, das letztlich nur den Populisten und Demokratiefeinden im Lande dienen würde.
Die aktuell gerade stark gestiegene Zahl der festgestellten Corona-Infektionen verlangt viel von uns, obwohl Deutschland bislang wesentlich besser durch diese Krise gekommen ist, als andere Länder. Trotzdem oder gerade aus diesem Grunde sind die Grundrechtsbeschränkungen im Einzelnen stets und ständig wieder danach zu überprüfen, ob sie verfassungsgemäß und verhältnismäßig sind. Es geht schließlich um unveräußerliche Menschenrechte. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit haben hohen Verfassungsrang. Einschränkungen darf es jedoch durch Gesetze geben, siehe Art. 2 (2) GG. Gleichzeitig darf nach Art. 3 (3) niemand u.a. wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das bedeutet, dass auch in pandemischen Zeiten die verfassungsgemäßen Rechte betroffener behinderter Menschen besonderer Berücksichtigung und Schutz bedürfen! In Bezug auf die berufliche Teilhabe ist immer wieder darauf zu insistieren, dass nicht alle Menschen, deren Schwerbehinderteneigenschaft amtlich festgestellt oder offensichtlich ist, zu einer Risikogruppe gehören. In jedem Einzelfalle ist – unter Hinzuziehung der SBV – eine Gefährdungsbeurteilung vorzunehmen. Und sollte diese ergeben, dass Maßnahmen nötig sind? Klar ist, dass die im §164 (4) des Sozialgesetzbuch IX geforderte Einrichtung eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes, des Arbeitsumfelds, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit auch unter Pandemiebedingungen gilt. Das gleiche gilt natürlich für die Information- und Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretungen.
Eine Rückkehr zur Normalität (wie immer diese jeder Mensch für sich definiert) wird es so schnell nicht geben. Und auch – wie man es uns mit wenig linguistischem Feinschliff beibringen will – eine „Neue Normalität“ tatsächlich aussehen kann, ist völlig unklar, da zurzeit die Perspektiven fast täglich wechseln. Wir befinden uns mitten in einer Krise, die es zu bewältigen gilt. Sprache sollte hier klarstellen und nicht verschleiern! Die Herausforderungen nehmen derweil zu, denn mittlerweile muss uns klar sein, dass wir von Krise zu Krise leben, die sich teils zeitlich auch überlappen. Mit den ersten Öl- und Energiekrisen, HIV, dem Klimawandel, dem Artensterben, Ebola, SARS, den Folgen der Wiedervereinigung, der Finanz- und Wirtschaftskrise, den Fluchtbewegungen, der Wasserknappheit und der Ernährungsunsicherheit, sowie dem Leugnen von Fakten seien hier nur einige wenige weltumspannende Krisen aufgeführt. Die Unterschiedlichkeit zeigt, wie weit sich der Krisenhorizont mittlerweile spannt. Die Corona-Pandemie ist also nur eine von vielen aufeinanderfolgenden oder auch gleichzeitig ablaufenden Krisen. Das trägt nicht gerade zur psychischen Stabilität vieler Menschen bei. Die sogenannten sozialen Medien sind heutzutage häufig nur unseriöse Beschleuniger und wenig hilfreich, die gebotenen Rationalität und Distanz zu schaffen, um auf breiter gesellschaftlicher Ebene sachgerechte Lösungen zu diskutieren. Das alles ist jedoch kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. „Things do not happen. Things are made to happen.“1
Im sozialen und wirtschaftlichen Miteinander stehen der Staat und die zuständigen Stellen weiterhin vor der Aufgabe, den Ausgleich zwischen der Freiheit und der Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger herzustellen. Aus der verfassungsmäßigen Logik heraus werden die notwendigen Freiheitsbeschränkungen schwerwiegender, je größer sich die Gefahren für Gesundheit und Leben der Bürgerinnen und Bürger zeigen. Das Grundgesetz kennt hier keinen Unterschied zwischen Jungen und Alten, Kranken und Gesunden, Behinderten und Nichtbehinderten, Reichen und Armen. Ein schwieriger Spagat, da es keine allgemeingültige Regel für die gerade in diesem Moment notwendigen Erfordernisse gibt! Der Staat muss sich daher zwingend auch des externen Sachverstandes der Wissenschaft bedienen. Diese wiederum kann immer nur den jeweiligen Stand der Erkenntnisse vorlegen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben diese Erkenntnisse wieder und erarbeiten Prognosen – sie treffen keine Entscheidungen! Und logischerweise können wissenschaftliche Expertisen – je nach Gegenstand, Komplexität und auch Zeitpunkt – zu unterschiedlichen, voneinander abweichenden Ergebnissen führen.2 Dass es zwischenzeitlich geradezu eine mediale Jagd auf Wissenschaftler gab und durch die bekannten Medien versucht wurde, diese gegeneinander aufzuhetzen, bzw. zu diskreditieren, stimmt bedenklich.
Abgesehen von der Tatsache, dass es genügend Fehlentwicklungen unseres Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftssystems zu kritisieren gibt: Dass es in Bezug auf die Corona-Diskussion in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit deutliche Reibungen und vielerlei Konflikte gibt, ist zunächst völlig normal und Kennzeichen einer noch halbwegs demokratischen Verfasstheit des Landes. Auch die mittlerweile zahlreichen Urteile verschiedenster Gerichte und Instanzen zeugen davon, dass es in dieser Angelegenheit durchaus wirksame Kontrollmechanismen gibt.3 Alle Verordnungen und Vorschriften kann man gerichtlich überprüfen lassen. Es gibt, bei aller Kritik – trotz der häufig schwer nachzuvollziehenden und sich schnell ändernden Regelungen – keine Corona-Diktatur!
1 John F. Kennedy, University of North Dakota, 25. 09. 1963
2
Dr. Uta Müller, uni-tuebingen.de/de/178797
3 https://dejure.org/corona-pandemie
In den wohlhabenden Ländern sind viele Menschen wegen der hier vergleichsweise guten medizinischen Versorgung schon fast gewohnt, das Phänomen „Krankheit“ gleichzusetzen mit dem generellen Anspruch auf Heilung und Genesung. Und schließlich sind weite Teile unserer Gesellschaft schon eher auf Gesundheitsoptimierung als auf Krankheitsvermeidung trainiert – Fitness-Tracker, -Watches und Gesundheits-Apps, sowie dazugehörige Krankenkassenboni beschleunigen den Trend. Es scheint offenbar vielen so, als wäre der „normale“ Tod nach mehr oder weniger langem Leben tatsächlich der Normalzustand. Corona zeigt uns, wie zerbrechlich jedes Leben zu jedem Zeitpunkt ist. Wir wissen, dass das Virus den Extremsportler genauso wie die notorische Couchpotatoe mit schlimmen Folgeerscheinungen nach scheinbar überwundener Krankheitsphase in die Knie zwingen kann.
Das Verhalten der Menschen ist direkt abhängig von der sozialen Definition des Kranksein, so Georg Seeßlen.4 Dass eine pandemische Situation, wie die jetzige, auch Ängste auslösen kann, ist bei kritischer Betrachtung nachvollziehbar. Fachleute berichten von einem signifikanten Anstieg der Diagnose Depression.5 Wobei gesagt sein muss, dass schon vor der Pandemie in Deutschland ca.1,5 Milliarden Tabletten Antidepressiva pro Jahr verordnet wurden. Das ist eine Versiebenfachung im Vergleich zu 1991 – bei nur geringer Erhöhung der Bevölkerungszahl.6 Und nun noch eine Steigerung…. Angst ist jedoch, wie wir wissen, ein schlechter Ratgeber. Neulich sah ich in Pirna in schöner Schrift auf einem Schaufenster geschrieben: „Wir müssen ja sowieso denken. Warum dann nicht gleich positiv?“ Nicht so einfach, ich weiß! Kritisches Denken muss sein – eine positive Grundeinstellung hilft dabei!
Über 28.000 Intensivpflegebetten mit einfacher und hoher Versorgungsstufe (Stand 4. Nov. 2020 lt. RKI und DIVI7) stehen in unserem Land zur Verfügung. Das sind zum Teil deutlich mehr als in anderen europäischen Ländern. Aber Ärzte, wie Krankenhäuser beklagen, dass es nicht genügend Fachpersonal gibt, um gegebenenfalls alle Plätze adäquat belegen und nutzen zu können! Das bedeutet u.U. eine große Versorgungslücke für den Fall, dass in der nächsten Zeit mehr Menschen Intensivpflege benötigen. Hier zeigt sich ein grober Fehler im System, der sich nicht durch Beifall im Bundestag und von den Balkonen, sowie einmaligen Coronaprämien beheben lässt, sondern nur durch eine massive Aufwertung der betreffenden Berufe! Unser Gesundheitssystem ist behandlungs- und pflegebedürftig und einige Operationen werden notwendig sein, um es zukunftsfest zu gestalten. Dabei scheint vielen die teure Einführung der elektronische Patientenakte ein geeignetes Handwerkszeug zu sein – viel wichtiger scheint es mir zu sein, grundsätzliche Überlegungen anzustellen, aus welchen Quellen und in welche Taschen die immensen finanziellen Mittel fließen. Die Notwendigkeit, das Krankenhaus- und Pflegepersonal endlich entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu behandeln und zu bezahlen, bleibt auch nach der relativ erfolgreichen Tarifrunde 2020 bestehen.
4 Georg Seeßlen, Coronakontrolle oder Nach der Krise ist vor der Katastrophe
5 https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/
6 Deutsche Gesellschaft für Psychatrie (Positionspapier des Fachausschusses Psychopharmaka der DGSP), Juni 2019
7 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Intensivregister.html
Vielfach wird der bundesdeutsche Föderalismus (Stresstest für den „Flickenteppich“8) als hinderlich bei der Bekämpfung und Eindämmung der Pandemie ausgemacht. Oberflächlich betrachtet mag das so sein. Die ungeheure Dynamik des Pandemieverlaufs sollte jedoch bei aller, teilweise sicher berechtigten, Kritik beachtet werden. Grundsätzlich war die Einrichtung des föderalen Systems ein Instrument der Machtbegrenzung und sollte auch noch heute als solches betrachtet werden! Gerade diese Bundesstaatlichkeit war und ist geeignet, notwendige Maßnahmen in begrenzten politischen Einheiten anzupassen und durchzuführen.9 Viele Bürgerinnen und Bürger wollen verständlicherweise allgemeingültige und leicht nachzuvollziehende und wenn es möglich ist, dauerhafte Regelungen. Jedoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass gerade die Konkurrenz der Länder in Bezug auf Maßnahmen Druck auf die politischen Entscheidungsträger erzeugt und dadurch auch Transparenz entsteht. Konflikte gilt es auszuhalten und die bundesweiten Maßnahmen auf das tatsächlich notwendige Maß zu beschränken. Der richtige Ort, dieses Maß der für alle Bundesländer geltenden Regelungen zu bestimmen ist m.E. das Parlament, der Deutsche Bundestag. Die jeweiligen Landesparlamente haben die Umsetzung in ihrem Bereich zu diskutieren. Das stärkt die demokratische Legitimation der Maßnahmen und erhöht die Akzeptanz. In den Parlamenten sitzen die gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes!
9 https://www.bpb.de/apuz/314343/foederalismus-in-der-corona-krise
8 tageschau.de, 13.03.2020, www.tagesschau.de/inland/corona-bewaehrungsprobe-foederaler-staat-101.html
Natürlich erfordert die Situation von Bürgerinnen und Bürger ein ungeheuer hohes Maß an Informationsverarbeitung und das nun schon seit vielen Monaten. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Aufmerksamkeitskurve schon in der frühen Phase relativ schnell abflachte und ein Gewöhnungseffekt einsetzte.10 Die Informationsflut auszuhalten, ist anstrengend und unbequem, bekommt man doch u.a. häufig den Eindruck, im Fernsehen würden sich Brennpunkte und Spezial- und Sondersendungen im Verbreiten nicht gerader relevanter Informationen überschlagen. Aber wir leben m.E. in einer außergewöhnlichen Situation, die das Land auch in einer wohl bislang nicht dagewesenen Weise fordert. Die Medien haben die sehr wichtige Aufgabe, Dinge einzuordnen, nachzufragen und/oder aufzudecken. Das sollte wohlproportioniert sein, ist aber absolut notwendig.
Demokratie ist anstrengend und bedeutet nicht nur Freiheit, sondern auch Gemeinsinn! Dass eine in provozierender Weise propagierte Angstlosigkeit vor dem Virus und eine demonstrativ zur Schau gestellte Männlichkeit nicht ausreichen, das Virus zu stoppen, zeigen die Statistiken der Länder, die von Rechtspopulisten wie Trump oder Bolsonaro regiert werden! Insofern sind relevante Informationen durch die Medien ein wichtiges Mittel einer offensichtlich notwendigen, dauerhaften Sensibilisierung und gegen eine Destabilisierung der Krisensituation.
In einer Gesellschaft, die wie die unsrige seit vielen Jahren auf Individualisierung und Selbstentfaltung getrimmt wurde, ist es nahezu erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Menschen durchaus bereit ist, die sie persönlich einengenden Maßnahmen mitzutragen. Dabei spielen offenbar der Schutz des eigenen Lebens und der Schutz Anderer eine gleichbedeutende Rolle. Wir dürfen dabei allerdings die wirklich extrem notleidenden Bereiche z.B. im Kulturbereich, Gastronomie und Touristik, der vielen Freiberuflichen, u.a. nicht übersehen. Werden die immensen finanziellen Hilfen des Staates nicht als ausreichend und gerecht verteilt angesehen, sinkt die Akzeptanz der Maßnahmen und die der politischen Entscheidergruppen! Der Gefahr, dass in unserem Land eine Unterscheidung in vorgeblich systemrelevante und weniger relevante Bereiche, sowie zwischen den Jungen und scheinbar Gesunden und den Risikogruppen Platz greift, ist entschieden entgegenzutreten. Berufliche, wirtschaftliche und soziale Existenzen oder gar Menschenleben gegeneinander abzuwägen ist höchst inhuman!
10 www.uni-erfurt.de/fileadmin/user_upload/CoreCrisis_Welle2_Rossmann.pdf
Erstaunlich ist auch, wie selbstverständlich die staatlichen, finanziellen und organisatorischen Interventionen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft selbst von den härtesten Neoliberalen gewürdigt und auch geradezu gefordert wurden und werden. Soll sich doch nach deren Überzeugung der Staat eigentlich aus alledem besser raushalten und allein die Mechanismen des Marktes wirken lassen. Dass der Markt ohne einen handlungsfähigen Staat nicht funktioniert, sollte in der jetzigen Lage eigentlich auch die Letzten überzeugt haben. Die augenblickliche Situation lässt die – zugegebenermaßen engen und schon wieder enger werdenden – politischen Spielräume erkennen, die ein „Weiter so“ nach einem Ende der Pandemie verbieten. Grundsätzlich hätte die im Frühjahr durch den „Lockdown“ erzwungene Ruhe im Lande tatsächlich dazu dienen können, die Arbeits- und Absatzmechanismen unserer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu überdenken. Aber es scheint, dass als einzig konkretes Ergebnis für nicht wenige Neoliberale die Tatsache auf dem Tisch liegt, dass das Homeoffice „die Lösung“ für viele (ihrer) Probleme darstellt. Für einige Probleme gilt das auch tatsächlich gesamtgesellschaftlich, wie z.B. die geringere Umweltbelastung durch weniger Berufsverkehr, die mögliche bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sowie auch verbesserte Möglichkeiten der beruflichen Teilhabe behinderter Menschen. Was aber eine soziale Vereinzelung durch mobile und Telearbeit für die Menschen bedeutet, wie sich die teilweise größeren Belastungen für Familien darstellen und welche Folgen dies für die auch künftig notwendige Solidarisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat, wird dabei natürlich nicht oder zu wenig bedacht. Die Gewerkschaften müssen hier den Forderungen nach Lockerung des Arbeitsschutzes widerstehen!
The Show must go on – ist für viele die Devise, und das um jeden Preis!? Und der monetäre Preis ist sowieso schon sehr hoch, denn die Milliarden an Unterstützungssummen wollen zurückgezahlt werden. Nicht irgendwann in unbekannter Zukunft, sondern dann, wenn die Maschinerie wieder läuft. Was unter Umständen die nächste (Finanz- und Wirtschafts-)Krise hervorruft. Wer von den Riesensummen welchen Teil tragen wird, ist noch nicht ausgemacht. Dass Vermögende und Superreiche hier einen angemessenen und größeren Anteil zu tragen haben, wird politisch durchzusetzen sein, wenn der Sozialstaat nicht noch weiteren Schaden nehmen soll. Kürzungen in Sozial-, Bildungs- und Kulturetats können keine Lösung darstellen. Was nach dem (zwischenzeitlichen?) Ende des Neoliberalismus kommt ist ungewiss! Staatliches Handeln muss jedenfalls neu definiert werden! Da ist es nicht mit individuellem Resilienztraining getan. Individualismus ist wichtig, gemeinschaftliches Handeln noch wichtiger.
Nach Hanna Arendt11 geht es im öffentlichen Leben, im Kulturellen und im Politischen weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden. Das erklärt, warum Demokratie so wichtig ist und jeden Tag um ihre Erhaltung gerungen werden muss! Wer für sich „Die Wahrheit“ beansprucht, hat sich aus der gesellschaftlichen Diskussion eigentlich schon verabschiedet.
11 Hanna Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Zum jetzigen Zeitpunkt (Stand Anfang November 2020) kann niemand vorhersagen, wann es einen sicheren und wirksamen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 geben wird, der vor COVID-19 schützt. Weltweit wird an der Entwicklung mehrerer Impfstoff-Typen gearbeitet.12 Und es ist genauso ungewiss, wie die sicherlich irgendwann begrenzt zur Verfügung stehenden Impfmittel weltweit verteilt werden. Wird es gerecht zugehen oder werden die sozial Schwächeren und/oder politisch Unterdrückten wieder einmal den Kürzeren ziehen? Das könnte aber wiederum bedeuten, dass das Virus nicht in dem notwendigen Maße weltweit bekämpft würde – was wiederum Folgen für den Rest der Welt hätte! Die Bekämpfung der Pandemie wird wohl auch zu einer Verteilungsfrage, wie sie sich in vielen Bereichen seit langem stellt!
Als Schlussfolgerung bleibt zurzeit nur, dass wir mit Ungewissheiten und Unsicherheiten noch recht lange werden leben müssen. Die alte Frage bleibt bestehen, wie wir uns als Individuen und als Gemeinschaft ein gutes Leben vorstellen! Sich darüber Gedanken zu machen, sich auszutauschen und für die Menschenrechte einzustehen, heißt Demokratie leben! In welcher Form wir unsere Lebensumstände gestalten, ist ein Akt des ständigen Aushandelns. Und dazu gehört Augenmaß für das Notwendige, Empathie für besonders Gefährdete, ein wacher Verstand und wenn es notwendig ist, auch Durchsetzungsstärke auf der politischen Ebene!
12 https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html
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